Vom Staatsfeind zum Liebling des Kremls
Lange hatte der Kreml gegen Telegram-Gründer Pawel Durow gekämpft. Behörden hatten versucht, seinen Messenger zu sperren – allerdings vergeblich. Nun sitzt der russische Exil-Unternehmer in Frankreich in Haft, und Moskau kämpft für ihn. Weiß der Mann zuviel?
Der Vorgang ist präzedenzlos. In Frankreich wurde mit Pawel Durow erstmals der Gründer und Betreiber einer großen Social-Media-Plattform in Untersuchungshaft genommen. Die Vorwürfe der französischen Behörden an den Telegram-Chef Pawel Durow wiegen schwer. Durow wird unter anderem vorgeworfen, Beihilfe zur organisierten Verbreitung von Kindesmissbrauchsmaterial und zum Drogenhandel geleistet zu haben. Fast eine Milliarde Nutzer hat Telegram nach eigenen Angaben. Die Untersuchung wirft Fragen nach der Zukunft der Plattform auf – und schickt Schockwellen in der IT-Branche bis ins Silicon Valley.
Dabei war es der russische Staat, der Durow bedrängt und zum Verkauf der Anteile an seinem erfolgreichen Facebook-Klon VKontakte gezwungen hatte. Noch vor wenigen Jahren hätte Moskau Durows Plattform am liebsten ganz ausgemerzt. Nun feiert ihn die Nachrichten des Staatssenders Rossija als jemanden, der „an der Spitze des Fortschritts“ stehe und daher vom technologiefeindlichen Europa verfolgt werde, weil es ins Hintertreffen geraten sei. Durow kämpfe mit seiner Kryptowährung TON für die „Entdollarisierung“, nicht zuletzt deshalb habe der Westen „Jagd auf Durow“ erklärt. Der 39-Jährige wird zum heimlichen Verbündeten des Kremls stilisiert.
Rekrutierung von Agenten im Westen
Der Kreml hat nach und nach Telegram für sich entdeckt. Nicht nur, weil die Plattform häufig zur Rekrutierung von Agenten im Westen benutzt wird oder als willkommenes Nachrichtenmedium für die rechten und linken Ränder der Gesellschaft in Europa - die häufig prorussische Narrative verbreiten. Zu Hause in Russland ist Telegram längst zum wichtigsten sozialen Medium avanciert, inzwischen knapp vor Durows Erstgründung VKontakte. Während die Nutzerzahl von VKontakte stetig fällt, steigt sie bei Telegram. 85 Millionen Russen nutzen Telegram mindestens einmal im Monat, knapp 50 Millionen sogar jeden Tag.
Angesichts fallender Zuschauerzahlen beim Staatsfernsehen ist Durows Messenger für Millionen Russen eine wichtige Nachrichtenquelle. Längst gibt es dort nicht nur oppositionelle und kremlkritische Kanäle - die Kreml-Propaganda nutzt Telegram für ihre Zwecke auch im Inland.
Große Staatsmedien sind dort präsent, genau wie bekannte Figuren wie Wladimir Solowjow und prorussische Militärblogger, Krawall-Politiker vom Schlage des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedjew, der Durow nun in einem Posting die Rückkehr nach Russland nahelegt, oder Außenministeriums-Sprecherin Maria Sacharowa. Bei Telegram folgen ihnen Millionen Nutzer. An Bedeutung hat Telegram auch für russische Influencer gewonnen, nachdem der Kreml Instagram blockieren ließ.
Außerdem ist Telegram auch bei russischen Beamten und selbst bei Militärs beliebt. Dass der Messenger fürs Versenden von Geheiminformationen benutzt wird, kann zwar als unwahrscheinlich gelten. Sensible Daten werden dort mit Sicherheit geteilt. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie – denn Ende-zu-Ende-Verschlüsselt sind die Nachrichten nicht, also sind sie für die Betreiber von Telegram im Zweifel lesbar.
Nur „geheime Chats“, die sich nicht zwischen mehreren Geräten synchronisieren lassen und selten benutzt werden, versprechen ein gewisses Maß an plausibler Privatsphäre. Und selbst da kann man davon ausgehen, dass Durows Messenger oder gar Dritte mitlesen können. Experten kritisieren seit Jahren die Verschlüsselungstechniken des Messengers als unsicher. Inzwischen sollen russische Staatsbeamte die Weisung bekommen haben, Chatverläufe bei Telegram zu löschen, ähnlich äußerte sich die Propagandistin und RT-Chefin Margarita Simonjan – bei Telegram.
Offenbar glauben nun Teile der russischen Elite, Frankreich könnte Durow unter Druck setzen, um an russische Regierungschats zu kommen. Dazu gehört etwa der Duma-Sprecher Wjatschelaw Wolodin, der die Übeltäter in Paris und Washington ausgemacht haben will.
Sollten sich westliche Länder tatsächlich für Telegram-Chatinhalte der russischen Politiker interessieren, dürfte die Warnung von Simonjan wirkungslos sein – denn was für den Nutzer gelöscht aussieht, muss noch lange nicht vom Server auf der Anbieter-Seite verschwunden sein.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 aus Moskau über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum. Hier finden Sie alle seine Artikel.
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